19.07.2025

Neue Offenbacher Schreibkunst

  Wer sich mit kunstgeschichtlichen Stiluntersuchungen abgegeben hat, wird oft versucht gewesen sein, die Darstellungsart eines Künstlers als dessen "persönliche Handschrift" zu bezeichnen. Und ethymologisch bedeutet "Stilus" ebensowohl die Schreibweise, das was man heute inhaltlich allgemein unter "Stil" versteht, wie auch das Schreibinstrument selbst, die handwerkliche Schreibkunst. Die Erfindung des Buchdruckes im 15. Jahrhundert bedeutet zweifellos einen großen technischen Fortschritt, aber genau so eine große seelische Verarmung: Für die Herstellung der Bücher wird die Persönlichkeit mehr und mehr ausgeschaltet und jetzt durch die Maschine ersetzt. Der mechanisierende Prozeß geht weiter, indem auch die bisher private Handschrift, der letzte Zufluchtsort der gestaltenden Seele, stereotypisiert wird in jener "Schreibmaschine", die das Abendland bezeichnenderweise von Amerika überkommen hat.

  In England suchten aus einer romantischen Gesinnung heraus Morris, Ruskin, Walter Crane seit der Mitte des verflossenen Jahrhunderts die Schreibkunst wieder zu beleben: Sie blieben eine Insel im Ozean des angelsächsischen Geschäftsgeistes. Das neudeutsche Kunstgewerbe erst, das seit etwa 1900 auf allen Gebieten der Bau- und Nutzkunst solch überraschend lebensfrische Triebe gezeitigt hat, hat auch die Schreibkunst, zuerst auf allen unsern Kunstgewerbeschulen und dann auch in der Praxis, hier im engen Anschluß an einen neuzeitlichen Buchdruck, systematisch gefördert. In dieser Bewegung gebührt dem hessischen Offenbach eine hervorragende Stelle: die Schriftgießerei von Rudhardt, später Gebrüder Klingspor, setzte sich mit bemerkenswertem Weitblick für die Verwendung neuer lebendiger Buchdrucklettern ein, die die ersten Nutzkünstler und Graphiker Deutschlands, wie der früh verstorbene Otto Eckmann, Peter Behrens, Otto Hupp, Walter Tiemann und Rudolf Koch in sorgfältigster Durcharbeit erschufen. Und was Klingspor in werkgerechten Drucklettern goß, das setzte Wilhelm Gerstung, die feinsinnige Offenbacher Buchdruckerfirma, in musterhaften Buch- und Akzidenzdrucken zusammen: es sei nur an die im eigenen Verlag erschienenen "Rudolfinischen Drucke" erinnert, die nach individueller Angabe Rudolf Kochs hergestellt wurden (bis jetzt erschienen: Fritz Reuter, Hanne Nüte un de lütte Pudel; Essais Tegnér, Die Frithjofs-Sage; Friedrich Rückert, Geharnischte Sonette; Ernst Moritz Arndt, Vom Vaterland; Max Hermanny, Kriegssonette; die beiden letzteren Arbeiten von Rudolf Koch mit der Hand geschrieben und dann lithographisch übertragen).

  An dieses ortseingesessene Druckgewerbe schloß sich ganz organisch das pädagogische Vorbild einer Schrift- und Druckklasse in den seit 1908 von Prof. Hugo Ebergardt zu bedeutsamer Blüte geführten Technischen Lehranstalten an: Rudolf Koch lehrt hier die Kunst des Schönschreibens. Der leider im Krieg gefallene, architektonisch kraftvolle Franz Franke, sein phantasiereicher Nachfolger Ludwig Enders, sorgen für die Ausbildung der illustrativen Gestaltungsgabe, während der ebenfalls bei Gebr. Klingspor tätige Faktor Ernst Engel sich für einen kunstgerechten Typensatz und sorgfältige Handhabung der Druckerpresse einsetzt.

  So konnten denn schon eine ganze Reihe eifrig voranschaffender Schüler in die Praxis entlassen werden, die, obwohl einer Klasse, wie sie sich gerne nennt: die Klasse der "Offenbacher Schreiber", entstammend, doch jeder seine individuelle Note darstellt: Hans Bohn und seine junge Gattin Leni, geb. Collin, Helene Böhm, Minna Cronberger, Max Hecht, Heinrich Holz, Margret Kranz, Alice Liebmann, Margret Sommer, Hans Schreiber, und natürlich als Lehrer und geistiger Führer Rudolf Koch selbst.

  Betrachten wir uns die hier abgebildeten Beispiele, so fällt als Gesamteindruck auf das einheitliche Zurückgehen auf die kraftvollen Frakturschriften der deutschen Spätgotik. Ab und zu wird solche Fraktur im Sinne des 18. Jahrhunderts, etwa als Schrägschrift oder Kursive gewandelt, anmutig erleichtert.

  Doch ist nirgendwo etwas von pedantischem Historismus oder von mechanischer Nachahmung zu spüren. Auch den Buchstaben und Zeilen geht - besonders bei den neuesten "expressionistischen" Arbeiten R. Kochs - erfreulicherweise jede Exaktheit der gegossenen Satztypen ab: Wie Temperament und Handgelenk es fordern, so schwingen und singen diese Schriftzeilen sich aus - darin so grundverschieden von der klassizistischen Korrektheit der englischen Doves- und Kelmscott-Pressen.

  An sich beansprucht diese geschriebene Lyrik, um durch ihre Buchstaben musikalische Stimmung auszuatmen, gewiß keinerlei Illustration. Was hier von den Offenbacher Schreibern an Randleisten, Zeilenornamenten oder Vollbildern gegeben wird, sind wohl eingepaßte Edelsteine zu dem selbst schon vollkommenen Goldreif: Hier haben wir eine durchaus harmonische Buchkunst voll persönlichen Lebens.
Fritz Hoeber
Aus: Archiv für Buchgewerbe und Graphik. 57.1920. S. 91f.
Aus: Feuer. Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur. 2.1920. S. 522f.

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