19.07.2025

Die Offenbacher Schreiber

  Unter der Bezeichnung "Offenbacher Schreiber" vereinigte das Darmstädter Gewerbemuseum im November v. J. erstmalig eine Reihe von geschriebenen Büchern und handschriftlichen Blättern zu einer Ausstellung, die zurzeit als Wanderausstellung durch verschiedene deutsche Städte geht. Vielleicht nicht ganz unbeabsichtigt klingt der Name an die alte Bezeichnung städtischer Schreibstuben an, von denen sich  manche in der Geschichte des Schriftwesens unvergänglichen Ruhm erwarb. Was die Künstler dieser Gruppe zusammenhält, ist die gemeinsame Herkunft aus der Schule von Rudolf Koch, dem bekannten Schriftzeichner der Klingsporschen Gießerei und Lehrer an der Technischen Lehranstalten in Offenbach. Außer Koch selbst sind an der Ausstellung beteiligt Helene Böhm, Hans Bohn, Leni Collin, Minna Cronenberger, Max Hecht, Heinrich Holz, Margret Kranz, Alice Liebmann, Otto Reichert, Hans Schreiber und Margret Sommer. In ihrer Gesamtheit darf die Ausstellung wohl als ein Ereignis auf dem Gebiet des Schriftwesens bezeichnet werden. Sie gibt Aufschlüsse, die in mancher Hinsicht reich sind an künstlerischem Wert.

  Zunächst bringt die Ausstellung nicht Schriftproben, sondern geschriebene Bücher.Von vornherein erscheint die Schrift nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel der Interpretation. Ihr Zusammenhand mit dem Text tritt lebhaft in die Erscheinung. Zugleich mit dem Wortlaut wird durch die Kunst des Schreibens der Stimmungsgehalt der Dichtung sinnlich vermittelt.

  Diese Auffassung der Schreibkunst hat Rudolf Koch selbst in seinem Begleitwort zu der Ausstellung deutlich ausgesprochen. Die sehr lesenswerte kleine Schrift schließt mit den Sätzen: "Der Schreiber ist ein Diener. Sein Herr ist der Dichter oder die Dichtung. Er hat seinem Text zu einer schönen, klaren, sinngemäßen Form zu verhelfen. Ist diese Unterordnung eine erzwungene, so ist er Handwerker, wird sie aus dem Drang des Herzens eine freiwillige, so ist er Künstler."

  Wie sehr diese Auffassung allen Offenbacher Schreibern Gemeingut geworden ist, zeigt schon ein Blick auf den Inhalt der geschriebenen Werke: neben biblischen Texten Sprüche von Rilke oder sprachliche Riesen wie das Wessobrunner Gebet; spröde mittelalterliche Lyrik oder Goethesche Lieder. Nicht daß der Schreiber nach Texten gesucht hätte, die so kostbarer Darstellung würdig wären. Aber der Reichtum dichterischer Sprache ist die Voraussetzung für seine Kunst. Er ist Interpret wie der Klavierspieler oder der Rezitator. Er leiht dem Dichter seine Hand, und aus den Zügen seiner Schrift spricht der Charakter der Dichtung.

  Diese Art der Schreibkunst erfordert mehr als Gewandtheit und Übung. Nur zum Teil wird sie erlernbar sein. Sie verlangt eine Fähigkeit zur Hingabe an die Schönheit dichterischer Sprache, die jede Schattierung des Empfindens lebendig werden läßt und zu deren sinnlicher Gestaltung drängt. Für die pädagogische Kunst des Lehrers ist es wohl das höchste Lob, daß er seine Schüler vor einer Überschätzung der eigenen Kräfte bewahrt hat. Es befinden sich in der Ausstellung Meisterwerke, wie manches Werk von Hans Schreiber, wie die Marienlieder von Helene Böhm u.a.m. Aber nur Rudolf Koch wagt sich an Texte, deren Wiedergabe ein höchstes Maß an Ausdrucksfähigkeit und Beherrschung der Schrift verlangt.

  Die Arbeiten Kochs zeigen einen erstaunlichen Reichtum des Könnens. Es befindet sich darunter eine Handschrift des Jesajas, in deutscher Schrift auf getöntem Pergament geschrieben, rauh und rücksichtslos, ohne Gleichmaß der Zeilen, ohne Geradlinigkeit und ohne Rand. Aber für den Leser gewinnt die Sprache des Propheten in dieser Niederschrift eine Unmittelbarkeit, die dem Eindruck des gesprochenen Wortes nahekommt. Einzelne Bibelsprüche - als Wandschmuck geschrieben - müßten für den Graphologen eine reiche Fundgrube sein, so wird in der Niederschrift des Textes das innere Erlebnis zum Ereignis. Die Pausen des Satzbaus, seine innere Bedingtheit durch die Erregung der Seele, der ganze Wechsel des Empfindens in Zuversicht und Bedrängnis - alles spiegelt sich in der Schrift wieder. Daneben Lieder von Mörike, wo die lautere Schönheit dieser Poesie aus den Zeilen leuchtet, oder eine Niederschrift des Wessobrunner Gebets, einzeilig in ein kleines Büchlein geschrieben, in der feinen, schlanken Urkundenschrift des 12. Jahrhunderts, ein Werk von wundervoller Einfachheit.

  Mehrere der Handschriften von Rudolf Koch, Helene Böhm, Max Hecht und dem reichbegabten Hans Bohn sind mit ganzseitigen Bildern geschmückt. Daß der Rhythmus expressionistischer Darstellung sich gerade mit der Schrift zu wundervoller Wirkung vereinigen läßt, ist keine neue Beobachtung. Sie wird auch durch die Ausstellung der Offenbacher Schreiber bestätigt. Und wie mit der Schrift verbindet sich die Pinseltechnik dieser Darstellungen auch mit dem Ornament, das Koch in seinen letzten Arbeiten aus handwerklicher Übung der Schreibstube zu entwickeln sucht. Hier liegen Anfänge, deren gesunde Entwicklung hoffentlich durch keine übereilte Kritik gestört wird.

  Schönschrift beruht auf Gewandtheit und Übung, aber des Menschen Handschrift ist sein Charakter. Nicht als Schönschrift, aber als Handschrift kann das Schreiben zur Kunst werden, in jenem höheren Sinn geistiger Schöpferkraft. Der große Wert der Offenbacher Ausstellung liegt darin, daß sie uns dies eigentliche Wesen echter Schreibkunst in einigen Meisterwerken nahe bringt.
Georg Haupt
Aus: Archiv für Buchgewerbe. 57.1920.

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