Von Gustav E. Pazaurek
Wir Menschen in den Kulturländern bilden uns ein, lesen und schreiben zu können. Das hat aber nur bis zu einem gewissen Grade seine Berechtigung. Mit dem Lesen geht´s ja noch so ziemlich; die Analphabeten sind wenigstens in Deutschland zum Glück eine ausgestorbene Klasse. Aber mit dem Schreiben haben wir es noch nicht allzu herrlich weit gebracht. Ich rede hier selbstverständlich nicht von der leidigen Orthographie, mit der das große Volk stets auf einem gespannten Fuße leben wird; wir sprechen hier von der Handschrift, welche neben einem nicht allzuweit gehenden, aber doch vorhandenen persönlichen Gepräge nicht in der Art der berüchtigten Medizinerrezepte rätselhaft und unergründlich sein soll. Eine klare, übersichtliche und dabei doch gefällige Schrift ist eigentlich leider sehr selten.
Man muß es schmerzlich bedauern, daß diese Seite in unserem ganzen Kulturleben gar so vernachlässigt wird. Wenn auf einem kunstgewerblichen Objekt eine Inschrift z.B. zu Bestimmungs- oder Widmungszwecken notwendig wird, so kann man nur zu häufig wahrnehmen, daß der betreffende Künstler diesen Teil seiner Aufgabe als etwas Untergeordnetes ansieht und daher am liebsten irgend einem Schriftmaler oder Graveur die Ausführung überläßt. Bei manchen Entwürfen, selbst bei Wettbewerbarbeiten ist es keineswegs selten, daß irgend eine leergelassene Stelle mit der Bezeichnung versehen wird: "Raum für die Schrift". Das ist ein großer Nachteil, denn die Inschrift kann ein kunstgewerbliches Objekt nicht nur entscheidend beleben, sie kann auch im gegengesetzten Sinne sonstige gute Qualitäten gänzlich paralysieren und vernichten.
Es wäre daher dringend wünschenswert, wenn man der Schrift eine ungleich größere Aufmerksamkeit schenken wollte, als dies immer noch der Fall ist. Bei einer Ehrenurkunde ist doch geradezu die Schrift die Hauptsache. Man sollte daher nicht nur einige Randornamente entwerfen und die Schrift durch eine Druckerei einfügen lassen, wie dies häufig genug geschieht, sondern die Schrift selbst mit mindestens derselben Sorgfalt behandeln, wie die Schmuckelemente, die man sonst noch einfügen will. - Auch für das Titelblatt ist die Schrift von primärer Bedeutung. Wenn sich selbst hervorragende Künstler wie Louis Corinth z.B. beim Elektra-Titelblatt dagegen versündigen, muß man dies um so mehr betonen, als so nachlässig hingeworfene Buchstaben nicht das geringste Gefühl für den richtigen Aufbau der Schriftzeichen, sowie deren Verteilung in der Fläche bekunden.
Kein Künstler soll sich zu vornehm dünken, dieser Aufgabe gerecht zu werden. Ein Albrecht Dürer oder ein Peter Flötner haben ihre so charakteristischen Schriften und Kalligraphenornamente selbst entworfen und dadurch ihre große Wichtigkeit anerkannt. Kein Wunder, daß die ihnen nachfolgenden Schreibkünstler eine so hohe Stufe einnehmen. Man braucht nur den herrlichen Initialen des bei Paul Fürst 1597 in Nürnberg erschienenen "Kunstrichtigen Schreibart" durchzublättern, um die Vielseitigkeit und treffsichere Eleganz der verschiedenen Alphabete zu bewundern. Allerdings betont schon die Vorrede dieses Buches, wie wichtig es den damaligen Kalligraphen war, etwas wirklich Bedeutendes zu schaffen und wie sie die ganze Literatur durchstöbern, um Belege für die hervorragende Stellung des Schreibkünstlers zu finden. Namentlich Luther wird mit dem nachfolgenden Zitat herangezogen: "Die Schreiberey ist bey vielen Hansen veracht / und sie wissen nicht / daß es ein Göttliches Werck ist / sehen auch nicht / wie es nützlich und nöthig der Welt ist. Wann sie aber die Feder auf den Hut stecken / so müssen sie selbsten bekennen / die Feder seye das obriste in der Welt / ohne welche sie auch nicht gerüst zum Streit / noch in Friede daher gehen können. Darumb sihest du / daß sie unseres Handwercks Zeug zu obrist setzen / und bildlich: da sie ihres Handwercks Zeug / das Schwerdt / an die Seiten gürten".
Heutzutage hat das Wort Kalligraphie eine unangenehme Nebenbedeutung erhalten. Man denkt entweder an die geleckt und stereotype Kaufmannsschrift, die in einzelnen Instituten den braven Zöglingen eingedrillt wird, ohne Rücksicht darauf, daß ein- und dieselbe Handschrift nicht für alle Leute geeignet sein kann. Oder aber man denkt an brotlose Spielereien sogenannter Schreibkünstler, die sie damit brüsten, so und soviel Hunderte oder Tausende von Worten auf eine Postkarte zu bringen und dergleichen.
Das kann auf die Dauer nicht befriedigen. Die graphischen Künste haben in unseren Tagen einen so gewaltigen Aufschwung genommen, daß es selbstverständlich ist, daß auch die Schönschrift - nicht im kommerziell-banalen Sinne, sondern vom ästhetischen Standpunkte - nicht leer ausgehen darf. Und so sieht man denn auch schon verschiedene Künstler am Werke, um eine Besserung zu erzielen, namentlich F. H. Ehmcke-Düsseldorf oder Rudolf Koch-Offenbach; während des einen Stärke die Antiqua bildet, ist der andere auf dem Gebiete der Fraktur besonders zu Hause. Aber bei diesen beiden konzentriert sich doch das Hauptinteresse auf den Druck, dem sie vorzügliche Typen zugeführt haben. Die Handschrift will aber auch noch jenseits der typographischen Notwendigkeit gepflegt sein und daher hat sich jetzt in Leipzig die Schriftschule von Hermann Delitsch gebildet, die trotz ihrer Jugend schon so vorzügliche Arbeiten aufzuweisen hat, daß man sie jüngst zu einer ansehnlichen Ausstellung im Stuttgarter Landesgewerbemuseum zusammenfassen konnte.
Hermann Delitsch ist derzeit wohl der einzige ausschließliche Vertreter der Schriftkunst, der sich durch nichts von seiner Lieblingsaufgabe ablenken läßt, für die er unermüdlich in Wort und Tat eintritt. Gerade seine Bescheidenheit, mit der er sich sonst immer im Hintergrunde hält, macht es uns zur Pflicht, uns mit ihm etwas näher zu befassen, als dies bisher geschehen ist. Durch Familientradition für das wissenschaftliche Studium bestimmt, entschloß er sich, wenn auch schweren Herzens, Mediziner zu werden. Nach dem Tode seiner Eltern vertauschte er diesen Beruf mit der Kunst, später als dies sonst in diesen Kreisen üblich ist. Die lange Beschäftigung mit der Wissenschaft hatte ihn kritischer gemacht, als es einer freien naiven Kunstausübung zuträglich sein mag. Aber andererseits trug die größere Reife dazu bei, das Wesentliche rascher zu erfassen. Nach einer kurzen vorübergehenden Tätigkeit in einem großen Leipziger Dekorationsmaleratelier besuchte Delitsch die Leipziger Akademie und wurde bald der vertraute und bevorzugte Schüler des durch seine Rekonstruktionswerke von Pompeji und Capri bekannt gewordenen Professors Carl Weichardt (✝︎ 1905), und als dieser 1900 nach Dresden berufen wurde, auch dessen provisorischer Stellvertreter. Im Jahre 1902 erfolgte bekanntlich die Umwandlung der bisherigen Akademie für graphische Künste und Buchgewerbe, und Delitsch gründete mit Zustimmung des Direktors eine Klasse für "geschriebene Schrift", an die sich auch eine Buchdruckabteilung anschloß. Aber gerade diese Verbindung des unabänderlichen Typensatzes mit der geschriebenen Schrift erwies sich auf die Dauer nicht als glücklich, so daß mit dem weiteren Ausbau der Leipziger Akademie die Buchdruckklasse an Belwe überging, während Delitsch, der seine Methode durch eingehende Studien bei Rudolf von Larisch in Wien (1907) entsprechend ausgebaut hatte, nun der alleinige Vertreter der Schriftschule wurde und eine eigene Fachklasse für die Schriftkunst erhielt. In dieser konnte nun das ganze Gebiet nach allen Seiten hin gepflegt werden. Gerade heute, da inzwischen z.B. durch die Düsseldorfer Schriftkurse für die preußischen Fachlehrer das Interesse für diesen Zweig neubelebt worden ist, konnte Delitsch durch seine ausschließliche Konzentration auf die geschriebene Schrift bald die schönsten Resultate aufweisen, die auch in der Stuttgarter Ausstellung 1911 zum Ausdruck kamen. Schon der Prospekt dieser Ausstellung ist ein Musterbeispiel vornehmer und schöner Schriftwirkung; aber auch die anderen Proben von geschriebenen Bücherzeichen, Karten oder Briefköpfen zeigen die gleichen Vorzüge. Nebst dem Schreibmeister Delitsch waren an der genannten Ausstellung noch seine beiden früheren Schüler Paul Crone, welcher derzeit als Lehrer für Schrift an der Kunstgewerbeschule in Dessau wirkt, und Wilhelm Scheffel, der als selbständiger Buchgewerbekünstler in Leipzig tätig ist, ebenso Fräulein Elsa Gallwitz in Leipzig, welche hauptsächlich originelle Kleisterpapiere ausgestellt hatte, in die z.B. Monogramme oder einzelne Worte sehr geschmackvoll einkomponiert waren.
Die genannte Ausstellung war keineswegs einseitig, wie man etwa glauben sollte, sondern recht abwechslungsreich. Schon der Unterschied zwischen den bei Delitsch vorherrschenden Antiqua- und Kursivtypen, mit der Frakturschrift bringt eine Belebung ins Programm. Andererseits sorgt auch die verschiedenartige Größe für einen mannigfaltigen Eindruck, da wir nicht nur kleine Akzidenzdrucke, die nach der Schrift klischiert wurden, sehen, sondern auch große Diplome, wie das für den Kommerzienrat Karl Engelhorn, ja selbst ganze Plakate, unter denen das der Dalcroce-Kurse sowie das der Ausstellung selbst, welches in Linoleumschnitt hergestellt war, Hervorhebung verdienen. Auch die Farbe kam sehr ansprechend zur Geltung, namentlich in den Bücherzeichen, zu denen die passenden Kleisterpapier-Hintergründe sehr fein abgestimmt waren. Aber auch die Anwendung der künstlerischen Schrift in der Buchbinderei zeigt zahlreiche geschmackvolle Ausstellungsgegenstände, namentlich die hübsch disponierten Titel in einfacher Tuschschrift auf dem weißen Pergamenteinband oder auf dem Pergamentrücken von Bänden, die sonst in Kleisterpapier gebunden waren oder auf Pergamentspangen, die sich über die Rücken legten, verrieten durchwegs ein feines künstlerisches Empfinden und eine treffsichere Hand; während die auch vertretenen schablonierten Bände etwas zurücktraten, sah man noch manche reizvolle Spezialität, so z.B. das in bemaltes Pergament gebundene Gedichtbuch "Des Knaben Wunderhorn", bei welchem auch der Schnitt eine wirkungsvolle farbige Schrift aufwies.
Wenn unter den Ausstellungsobjekten auch ein Buch ausschließlich geschrieben war, so wollen wir dies als eine Ausnahme gelten lassen; zur Regel kann selbstverständlich etwas derartiges nie werden. Ein Zurückgreifen in frühmittelalterliche Zeiten wäre gewiß wenig angebracht, und wir freuen uns, daß gerade bei Delitsch und seiner Schule das archaisierende Moment nur ganz leicht anklingt, aber niemals zu einer direkten Entlehnung führt.
So viel steht jedenfalls fest, daß die Leipziger Schriftschule, die sich mit der genannten Ausstellung sehr gut einführte, einen ausgesprochen individuellen Charakter hat. Aber auch innerhalb dieser Schule hat jeder Vertreter sein eigenes Gepräge, und gerade das ist das Interessante. Wir sind zwar in der Gegenwart in den graphischen Künsten keineswegs arm an Individualität. Im Gegenteil, es wird fast des Guten zu viel getan, indem es bald kaum einen namhaften modernen Kunstgewerbler geben wird, der für den Buchdruck nicht schon mindestens ein Alphabet entworfen hätte, was unseren Schriftgießereien ja angenehmer sein mag, als unseren Buchdruckereien. Aber während der Typensatz in unserer Zeit so vielgestaltig wird, hat gerade die Schriftkunst, in welcher sich die Individualität ja viel leichter entfalten kann, bisher noch wenig aufzuweisen gehabt, was den Drucktypen ebenbürtig gewesen wäre. Um so verdienstlicher ist daher das Auftreten der Leipziger Schriftschule und bei der Jugend ihrer Mitglieder und bei ihrem zielbewußten Streben können wir von ihnen die fruchtbarsten Anregungen mit Sicherheit erwarten.
Aus: Kunstgewerbeblatt. N.F. 22.1911. S. 193
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