Gehen wir den Entwicklungsgang unserer vielfältigen modernen Druckschrift zurück, stoßen wir auf eine Handschrift, für deren Kultur unser Auge im allgemeinen nicht mehr der richtige Wertmesser scheint. Wer in einer Handschrift lediglich das zweckdienliche Mittel zur Weitergabe eines Gedankens oder einer Nachricht sieht, wer nach der Entwicklung bzw. nach dem Stillstand unseres eigenen Schreibvermögens nicht mehr darin sehen kann, wird erstaunt sein, welche Fülle von Ausdrucksmöglichkeiten in der menschlichen Handschrift für einen geschulten, anpassungsfähigen und formsicheren Schreiber gegeben sind! Vom Schönheitsbegriff einer ausdrucksvollen Drucktype haben wenigstens die Fachleute eine Vorstellung; der Schönheitsbegriff in der Handschrift ist aber selbst bei denen verworren und getrübt, die auch einmal schreiben gelernt haben.
Mit [Rudolf] Spemann, von dessen Begabung hier eindringliche Proben veröffentlicht werden, taucht ein Schreiber auf, dessen Federführung in erstaunlichem Maße jeweils der Wortgebung angepaßt ist. Bei der Sauberkeit und bis zum letzten Buchstaben gleichen Stilreinheit, bei der klaren Lebendigkeit handelt es sich um mehr als nur handwerklich akkurate Leistung - wenigstens wenn man "handwerklich" im üblichen, leider allzu begrenzten Sinne nimmt.
Man wird ein Schreiber aus Liebe zum Wort, aber erst in Verbundenheit mit dem Wort wird man ein guter Schreiber. Es dürfte kein Zufall, sondern charakteristisch sein, daß der Schreiber Spemann einem Hause entstammt, in dem die Liebe zum Buch und zur Schrift Überlieferung ist. Es wird auch nicht erstaunen, daß solche Liebe, sofern sie nicht platonische Bewunderung bleibt, zumeist und am wirkungsvollsten in Versuchen an der Heiligen Schrift oder an anderen religiösen Werken zum Ausdruck kommt. Die Sprache der Religion verlangt so sehr nach einem besonderen Ausdruck, daß sich jeder Laie instinktiv um eine ausdrucksvolle Schrift bemühen würde, hätte er etwas aus der Bibel abzuschreiben.
Das große Wort verlangt wie das zärtliche Wort, wie das Wort des Märchens und der Legende eine jeweils entsprechende, eindeutig sprechende Schrift. Der dafür empfindsame Schreiber gibt wie Spemann nicht nur auserwählte Buchstaben, sondern möglichst auch einen auserwählten Rahmen. Spemanns Bücher sind auch im Einband eigene Handwerksarbeit. Somit liegen Proben einer ungewöhnlich harmonischen Gesamtwirkung vor - sie sind mehr als eine Augenfreude für die Liebhaber des Wortes und der Schrift.
Der Schüler Schneidlers erhöht durch die Schrift den geistigen und künstlerischen Genuß; die Stärke seiner Schrift scheint eine geläufige Einfachheit, mit der sie Diener am Wort, nicht aufdringliche Wirkungshascherin ist. Das Einfühlungsvermögen und das Formvermögen sind für diese Handschrift maßgeblich. Wen Worte innerlich bewegten, warum sollte der nicht durch eine geeignete Schrift sein Erlebnis steigern? Spemanns Ausdrucksfähigkeit bietet die Möglichkeit dazu.
Werner Suhr
Aus: Gebrauchsgraphik. 11.1934. Heft 12.
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